Was tut man dafür? Das ist die Frage

Jetzt wird der Ziger aufgehängt und kann werden. Daniel Blaser hat genug dafür getan

Vor rund 20 Jahren berichtete mir ein Kollege, dass er die aufkommende Begabungsförderungswelle für eine elitäre Idee mit USA-Hintergrund halte und wir in Europa dumm genug seien, alles aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu übernehmen. Als Student hatte ich mich kritisch mit der USA-Politik auseinandergesetzt, hatte 1973 den Sturz des demokratisch gewählten chilenischen Präsidenten Allende mitverfolgt, hatte darauf Noam Chomsky und David Horowitz («Kalter Krieg») gelesen. Darum überzeugte mich der begabungskritische Gedankengang meines Kollegen damals, so dass ich eine intensivere Auseinandersetzung mit der zu jener Zeit vor allem aus den USA kommenden Begabungsförderung hinausschob.

An Potenzialen orientieren

Etwas später las ich dann erstmals von einem sogenannt hochbegabten Schüler, der in der Schule so verkannt und zurückgebunden worden sei, dass ihn Suizidgedanken geplagt hätten. Erst als ihn neue Lehrpersonen gefördert hätten, sei es ihm besser gegangen, so dass sich sein Leben total verändert habe, die Versuchung, Suizid zu begehen, sei verschwunden. Zahlreiche weitere – zum Teil tragische – Beispiele überzeugten mich in der Folge von der Notwendigkeit, hochbegabte Kinder und Jugendliche ebenso als solche zu erkennen und zu fördern wie solche mit Lernschwierigkeiten oder Lernbehinderungen: Jeder junge Mensch braucht die zu ihm passende individuelle Förderung! Mein Liestaler Kollege Victor Müller überzeugte mich vollends vom Sinn der Begabungs- und Begabtenförderung: In jeder Klasse finden sich Schülerinnen und Schüler mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten. Sie müssen alle gefördert werden, guter Unterricht muss sich an den Potenzialen aller Kinder und Jugendlichen orientieren und gleichzeitig deren Integration in die Gemeinschaft im Auge haben. So werden junge Menschen, was sie werden können. Dieser Grundgedanke jeder humanistischen Pädagogik ist alt, findet sich zum Beispiel bei Comenius oder Paul Moor, der 1965 in seinem Lehrbuch der «Heilpädagogik» schrieb: «Wo immer ein Kind versagt, haben wir nicht nur zu fragen: Was tut man dagegen? - Pädagogisch wichtiger ist die Frage: Was tut man dafür? - nämlich für das, was werden sollte und werden könnte.»

Probleme machen oder haben?

Oft ist unser erster Impuls, etwas gegen die Störung des Lernens zu tun, der Unterrichtsstörung Einhalt zu gebieten. Unterrichtsstörungen stellen eine grosse emotionale Belastung für uns Lehrpersonen dar, wir fühlen uns genötigt, für Aufmerksamkeit und für eine gute Lernatmosphäre zu sorgen. Diese Impulse sind verständlich und berechtigt. Lehrpersonenhandeln ist «Handeln unter Druck» (Wahl). Eine grosse Kunst dabei ist, sich als Lehrperson nicht zu stark unter Druck setzen zu lassen, sich nicht angegriffen zu fühlen, nicht nur mit dem «Tunnelblick» (Lohmann) die Klasse zu mustern, sondern einen kühlen Kopf zu bewahren, die Situation richtig einzuschätzen und sich dann für eine situationsangemessene Reaktion zu entscheiden. Hilfreich sind in diesem Zusammenhang pädagogische Grundsätze wie: «Das Kind macht nicht Probleme, sondern es hat Probleme» oder der moorsche Grundsatz: «Was tut man dafür? - nämlich für das, was werden sollte und werden könnte.»

Eine aus diesen Grundsätzen hervorgehende Stossrichtung zeichnet sich durch die Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten aus, nach Ressourcenförderung: «Wie könnte ich dir helfen?» - «Was könnte dir helfen?» - «Womit hast du bisher Erfolge gehabt?» Auch so können zum Beispiel störende oder nicht mehr mitkommende Schülerinnen und Schüler angesprochen werden. Die Perspektiven von «Ressourcenorientierung» oder «Entwicklungsmöglichkeiten» nicht zu vergessen ist wichtig, für die Pädagogik wie für die Bildungspolitik.

Fit machen statt importieren

Im August 2013 war in der Zeitung zu lesen, dass das «Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation» abkläre, Jugendliche aus Südeuropa in die Schweiz zu holen, um so den Nachwuchs für gewisse Berufe zu sichern. Dieser Idee liegt eine Defizitorientierung und keine Ressourcen- und Förderungsperspektive zugrunde, dass nämlich eine gewisse Gruppe junger Menschen in der Schweiz nicht mehr zu fördern, somit zu defizitär ist. Kein Wunder, dass die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm ablehnend reagierte: «Um es unmissverständlich zu formulieren: zuerst unsere Jugendlichen für die Berufslehre fit machen und dann erst aus Südeuropa importieren.» Wer es genauer wissen will, wie dieses Fitmachen aussehen könnte, kann in Stamms Dossier «Lehrlingsmangel –Strategien für die Rekrutierung des Nachwuchses» nachlesen. Gute Strategien sind gefragt, damit junge Menschen werden, was sie werden können.

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