Rendez-vous mit Jürg Rüedi und René Strickler

René Strickler dressiert Raubtiere, Jürg Rüedi bildet Lehrerinnen und Lehrer aus. Die beiden Pädagogen entdecken viele Gemeinsamkeiten in der Erziehung von Mensch und Tier

NZZ am Sonntag: Herr Rüedi, haben Sie schon einmal versucht, ein Tier zu dressieren?

Jürg Rüedi: Ich habe es erfolglos versucht mit unserer Katze. Sie gehorcht immer noch nicht. Es ist angenehm, zu erleben, dass es auch eigenwillige Tiere gibt. Wir Menschen sind ja wesentlich korrumpierbarer als eine Hauskatze.

Herr Strickler, bändigen Sie Raubtiere - oder erziehen Sie sie?

René Strickler: Bändigen auf jeden Fall nicht. Intelligente Lebewesen wie Raubtiere brauchen mehr als nur Fütterung und ein abwechslungsreiches Gehege. Man muss sie beschäftigen, auf sie eingehen. Mit Bändigen allein käme man nicht weit, da Raubtiere bekanntlich sehr stark sind und der Mensch kräftemässig nicht standhalten könnte. Es braucht also beim Umgang mit Tieren viel Einfühlungsvermögen und Vertrauen. Ich will nicht gedrillte Lebewesen zeigen, sondern jedes Tier in seiner Eigenständigkeit und Persönlichkeit.

Rüedi: Daraus könnte ich pädagogische Prinzipien ableiten, die auch für die Erziehung von Kindern und Jugendlichen gültig sind. Zum Beispiel das Vertrauen als Grundlage der Erziehung: Erasmus von Rotterdam hat bereits gesagt, der erste Schritt zum Lernen sei die Liebe zum Lehrer. Einfühlung ist ein zweites sehr wichtiges Prinzip für die Lehrperson. Es tönt für mich sehr vertraut, was Sie aus Ihrer beruflichen Realität schildern.

Strickler: Bei Tieren kann es passieren, dass eine Raubkatze einmal eine «Läck mer»-Stimmung hat. Dann muss man sie motivieren wie ein Fussballtrainer, der seine Spieler antreibt. Ich hatte einmal einen wunderschönen sibirischen Tiger, der einen Fünf-Meter-Sprung von einem Podest zum anderen beherrschte. Ich dachte, nein, dieser grosse, kräftige Tiger ist zu viel mehr imstande, sieben Meter müsste er schaffen. Doch er hat es sich nicht zugetraut. So stellte ich das Podest immer ein bisschen weiter weg und motivierte ihn mit der Stimme: Hey, du kannst das, chumm, spring. Irgendwann nahm er allen Mut zusammen - und sprang. Mit Erfolg! Dann hätten Sie den Tiger sehen sollen, wie er auf und ab stolzierte - viel erhabener und grösser als zuvor ging er bei jedem seiner Artgenossen vorbei und schwenkte den Kopf. So, wie wenn er hätte sagen wollen: «Häsch gsee, was ich gmacht han?»

Rüedi: Es ist faszinierend, wie Sie das schildern. In einer Schulstube steht man vor der genau gleichen pädagogischen Ermutigungsaufgabe. Wenn Kinder etwas nicht können, sind sie unsicher, zögern. Wenn sie es aber können, strahlen sie, richten sich auf und sind kaum wiederzuerkennen. Mich erstaunt es, dass Sie auch bei Tieren von einem zaghaften Selbstvertrauen reden.

Strickler: Es sind Lebewesen, die die Fähigkeit haben, ein Gefühl auszudrücken. Nach 30 Jahren Arbeit mit Tieren sehe ich, dass alles, was mit Spüren und Fühlen zu tun hat, beim Tier viel weiter entwickelt ist als beim Menschen. Wir können bluffen, Angst überspielen. Einem Raubtier gegenüber kann man Unsicherheit nicht überspielen. Sie haben Röntgenaugen, mit denen sie in dich hineinsehen. Deshalb ist Ehrlichkeit eine Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit mit Tieren.

Rüedi: Wir haben jetzt das Gemeinsame betont. Wo sehen Sie denn Unterschiede in der Erziehung von Tieren und Menschen?

Strickler: Bei der Erziehung von Menschen kann ich nicht mitreden. Ich stand noch nie vor einer Klasse und habe keine Kinder. Kürzlich hielt ich einen Vortrag vor einer Schule, im Anschluss bat mich die Lehrerschaft ins Lehrerzimmer. Sie wollte wissen, wie man bei der Ausbildung von schwierigen Raubtieren vorgehe. Nach zwei Stunden interessierten Zuhörens hiess es: «Das ist ja wie bei uns mit den Problemkindern.» Einen Unterschied sehe ich vielleicht darin, dass Eltern bei ihrer Erziehung durch Dritteinflüsse «gestört» werden - durch Lehrer, durch das Umfeld und anderes. Das gibt es bei meiner Arbeit nicht. Selbst wenn das Publikum unruhig ist, stört das herzlich wenig, solange ich als Bezugsperson der Tiere gelassen bin.

Sind Tiere also mehr auf ihren Erzieher konzentriert als Kinder?

Strickler: Ich denke schon. Mir haben Lehrer erklärt, dass, wenn sie die Kinder das ganze Wochenende nicht mehr sehen, sie oft am Montagmorgen wieder bei null anfangen müssten. Bei mir sind keine anderen Personen mit den Tieren zusammen.

Rüedi: Ein anderer Unterschied ist, dass die Lehrperson in der Schule eine Art Traditions- und Kulturvermittlerin ist. Sie gibt die über Jahrhunderte entstandenen sprachlichen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse den Schülerinnen und Schülern weiter. Das fällt bei Tieren weg. Mich interessiert noch die emotionale Seite: Empfindet ein Tier, ob Sie es als Lehrer gut mit ihm meinen? Bei einem Kind ist das ja ein ganz wichtiger Punkt: Es spürt, ob ihm die Lehrperson Vertrauen entgegenbringt oder ob sie misstrauisch ist.

Strickler: Bei meiner Arbeit muss ich mich voll auf das Tier konzentrieren, damit meine Empfindungen, die Energien direkt zum Tier fliessen. Wenn ich mich ablenken lasse, macht das Tier nicht mit. Dann ist es wie eine Stromleitung, die unterbrochen ist. Die Tiere spüren also vor allem, ob meine Zuwendung echt ist.

Rüedi: Bei der Erziehung spielt die Vorgeschichte eine grosse Rolle. In der Schule sollte man Kinder in ihrer psychischen Individualität abholen, um den Lernprozess optimal zu fördern. Beachtet man bei Raubtieren ebenfalls solche Individualitäten?

Strickler: Auf jeden Fall. Die Tiere, die ich aufnehme, kommen aus zoologischen Gärten und sind etwa 15 oder 16 Monate alt, verglichen mit Menschen wären sie also 15- oder 16-jährig, also in einem Alter, in dem ja auch bei den Menschen teils eine rabauzige Stimmung herrscht. Da spielt es eine Rolle, was sie bis dahin erlebt haben. Wenn ein Tier mit Mängeln aufgewachsen ist, kein Vertrauen erlebt hat und demzufolge ängstlich ist, ist es nicht pflegeleicht. Doch solche Tiere reizen mich mehr, man muss viel in sie investieren, um sie zu festigen und ihnen eine Persönlichkeit zu geben.

Wie wichtig ist die Disziplin für die Erziehung?

Strickler: Raubtiere sind ja mit todbringenden Waffen ausgerüstet. Sie können selbst im Spiel einen Menschen lebensgefährlich verletzen. Deshalb ist es enorm wichtig, Regeln und Grenzen festzulegen. Disziplin ist der Leitfaden der Erziehung. Allerdings muss man auch fähig sein, einmal fünf gerade sein zu lassen. Es gibt Situationen, in denen ein Tier etwas nicht schafft, was es an andern Tagen zustande bringt. Sei es, weil es sich in der Nacht ausgetobt hat und jetzt müde ist oder weil es einen schlechten Tag hat. Wenn ich aber das Gefühl habe, ein Tier mache längere Zeit etwas nicht, weil es ihm «stinkt», dann weiss ich, dass es für das Tier besser ist, wenn es sich überwindet. Ich helfe ihm dabei, indem ich es motiviere.

Rüedi: In der Schule schreibt der Lehrplan vor, was eine Klasse mit 15 oder 25 jungen Menschen erreichen muss. Mit dieser Zielvorgabe wird die Disziplin ebenfalls sehr wichtig - im Sinn gemeinsamer Regeln und einer gemeinsamen Verbindlichkeit. Schulische Lernziele sind nur mit langfristigen Anstrengungen erreichbar: durch Aufwand, Bemühung, Selbstdisziplin, Training. Gleichzeitig muss die Lehrperson darauf achten, dass die Disziplin im Sinne von Selbstdisziplin gefördert wird. Nur so erwerben Schülerinnen und Schüler Verfügungsgewalt über sich selber, darin liegt der tiefere Sinn der Disziplin.

Strickler: Disziplin schafft einen verlässlichen Rahmen. Sie hilft, sich im Alltag mit Menschen ebenso zurechtzufinden wie mit Tieren.

Rüedi: Ich plädiere für ein «antinomisches Verständnis» von Disziplin. Das bedeutet: sowohl führen wie wachsen lassen, lenken als auch aufmuntern, Grenzen setzen und Freiraum ermöglichen, streng sein, aber nicht pedantisch - eben fünf gerade sein lassen. Man legt Gewicht auf das, was man angeordnet hat, lässt aber auch begründete mildernde Umstände gelten und verzichtet auf die Strafe.

Wie sieht eine Strafe gegenüber einem Tier aus?

Strickler: Das kann Entzug der Aufmerksamkeit sein. Ein Tier empfindet es sofort, wenn man es links liegen lässt oder mit ihm anders spricht. Die beste Strafe ist die nur angedrohte. Eine ausgeführte Strafe bringt nichts: Wenn man einen Löwen schlägt, steckt er es vielleicht weg, geht jedoch später zum Angriff über. Wenn das Tier aber nicht weiss, was es erwartet, weil die Folgen nie realisiert worden sind, hat es Respekt. Auf der andern Seite gibt es die Belohnung. Wenn ein Tiger zum Beispiel auf seinem Platz sitzen muss, zeigt man auf die Tasche mit den Fleischstücken, die man bei sich hat. Wenn er dort bleibt, redet man mit ihm - und gibt ihm ein Stückli. Die intelligenteren Tiere lernen sehr schnell. Zuerst geht es mit Futter, später nur noch mit der Stimme. Oder mit Kraulen hinter dem Ohr oder am Hals. Das geniessen die Raubkatzen sehr. Wenn sie es aber nicht gut machen und der Dompteur laut wird oder nicht zu ihnen kommt, um sie zu kraulen, ist das eine harte Strafe.

Rüedi: Der Entzug von Aufmerksamkeit ist in der Schule ebenfalls wichtig. Zum Beispiel, wenn Kinder dauernd stören, darf man sich nicht nur mit ihnen beschäftigen, sondern muss sich jenen zuwenden, die produktiv arbeiten.

Gibt es Tiere, die man nicht erziehen kann?

Strickler: Uff, ich habe bis jetzt etwa 70 Raubtiere ausgebildet. Einmal erlebte ich es, dass ein Leopard aus einem spanischen Zoo derart nervös war, dass er mit nichts zurechtkam. Er war stark schwankend: an einem Tag ganz gut, am nächsten Tag völlig verrückt. Ich schliesse nicht aus, dass er einen Gehirnschaden hatte. Hier sah man, dass es besser war, ihn im Zoo zu belassen, als ihn mit anderen Tieren zusammenzuführen. Das war aber nur eines von 70 Tieren.

Rüedi: In der Heilpädagogik ist der Begriff der Schwererziehbarkeit gestrichen worden. Heute sind das Kinder «mit besonderen Bedürfnissen». Es ist das Credo der Pädagogik, dass Menschen prinzipiell lernfähig sind.

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